Definitionen aus der Forschungsliteratur

Definitionen sagen viel über fachliche Schwerpunktsetzungen und die fachliche Entwicklung eines wissenschaftlichen Feldes aus. Daher sollen hier Definitionen aus der Forschungsliteratur präsentiert und kommentiert werden.

Die Auswahl zeigt ein breites Spektrum von Ansätzen und Perspektiven: Neben Definitionen aus englisch- und deutschsprachiger Literatur betrachten wir auch Positionierungen der sprachwissenschaftlichen Fachgesellschaften.

Wir haben unser Verständnis von Angewandter Linguistik ebenfalls in einer Definition zusammengefasst.

Magdalena Belz, Universität Würzburg

Definition aus der Forschungsliteratur

„Angewandte Linguistik ist heute generell zu definieren als eine Disziplin, die sich mit der Beschreibung, Erklärung und Lösung von lebens- und gesellschaftspraktischen Problemen in den Bereichen von Sprache und Kommunikation befasst. Diese Probleme halten sich nicht notwendig an disziplinäre Grenzen; für ihre Bearbeitung reichen vorhandene linguistische Erkenntnisse auch nicht immer aus. Das Streben nach Problemlösungen bringt es mit sich, dass die Angewandte Linguistik oft über den vorhandenen linguistischen Forschungsstand hinausgehen und gegenstandsbezogen neue Methoden und theoretische Konzepte entwickelnund dabei auch auf andere Disziplinen Bezug nehmen muss. Die Unterscheidung von Theoretischer und Angewandter Linguistik wird damit obsolet.“

(Angewandte Linguistik. Ein Lehrbuch. Herausgegeben von Karlfried Knapp, Gerd Antos, Michael Becker-Mrotzek, Arnulf Deppermann, Susanne Göpferich, Joachim Grabowski, Michael Klemm und Claudia Villiger. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage Tübingen 2011, S. XXII)

 

In dieser Definition formuliert der Sprachwissenschaftler Karlfried Knapp, Ehrenmitglied der GAL, den Rahmen für das ganze Sammelwerk: Der AL geht es stets um das Beschreiben, Erklären und Lösen von sprachbezogenen Problemen. Die eigene Theorie- und Methodenbildung als Kennzeichen wissenschaftlichen Anspruchs wird besonders herausgestellt. Angewandte Linguistik ist daher nicht nur irgendein arbeitspraktischer Anwendungsbereich von linguistischer Forschung, sondern eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin – auf sprachwissenschaftlicher Grundlage und mit starker interdisziplinärer Verknüpfung.

Paula Breukel, Universität Würzburg

[Applied linguistics] „is a sister (rather than a sub-) discipline of general linguistics. […] Applied linguistics is, above all, a problem-solving discipline, and while any project in applied linguistics may begin with a description or empirical investigation of the role of language in a real-world problem.“

(Christopher Hall, Mapping applied linguistics. New York: Routledge 2011, 16f.)

 

Als ‚Schwester‘ der Allgemeinen Linguistik wird die Angewandte Linguistik als gleichrangige Disziplin neben der Linguistik beschrieben. Sie befasst sich mit der Rolle der Sprache bei wahrgenommenen Kommunikationstörungen und hat den Anspruch der Problemlösung.

Kateřina Merčáková, Universität Brno

„Die Angewandte Linguistik befasst sich damit, wie wir mit Sprache Probleme lösen.“

(D. Perrin (2022), Angewandte Linguistik für Sprachberufe, Berlin – Boston, S. 23)

 

AL stellt die Lösung gesellschaftlicher Probleme mit und durch Sprache in den Fokus. Es werden z. B. Probleme untersucht, die durch unangemessenen Sprachgebrauch entstehen. Außerdem wird untersucht, wie mithilfe von Sprache eine Haltung gemeinsamer Verantwortung ermöglicht ist, damit sich die Menschen aus verschiedenen Gruppen, Sprachen und Kulturen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen verstehen können.

Barbora Šabľová, Universität Brno

„Angewandte Linguistik untersucht und lehrt, wie wir uns kommunikativ richtig und angemessen verhalten.“

(D. Perrin, in: Angewandte Linguistik für Sprachberufe. Hg. von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, 2. Auflage Berlin – Boston 2022, S. 23)

 

Hier wird’s persönlich: AL erzielt nicht nur Ergebnisse in wissenschaftlichen Projekten, sondern wirkt direkt auf uns zurück: Sie kann nicht nur Lösungen für sprachbezogene Probleme aufzeigen, sondern generiert auch für die Forschenden selbst ein sprachkritisches Bewusstsein und leitet sie zu sprachlich angemessenem Kommunikationsverhalten an.

AL kann Probleme lösen und uns selbst zu Sprachprofis machen – eine schöne Vorstellung, oder?

Barbora Šabľová, Universität Brno

Auf dem AILA-Kongress 1999 wurde intensiv über Disziplinarität und Interdisziplinarität, über Zuschnitte, Forschungsfragen, Methoden und Perspektiven Angewandter Linguistik diskutiert. Robert B. Kaplan und William Grabe fassen den Konsens der Diskussionen thesenartig in acht Punkten zusammen, die man (auch) als umfangreiche Definition lesen kann:

„First, applied linguistics has many of the marlungs of an academic discipline: professional journals, professional associations, international recognition for the field, funding resources for research projects, a large population of individuals who see themselves as applied linguists, trained professionals who are hired in academic institutions and elsewhere as applied linguists, students who want to become applied linguists, and recognized means for training these students to become applied linguists.

Second, there is a general recognition that linguistics needs to be included as a core knowledge base in the work of applied linguistics, even though the purpose of most applied linguistics work is not merely to „apply linguistics“ to achieve a solution.

Third, applied linguistics is grounded in real-world language-driven problems and concerns (primarily by linkages to practical issues involving language use, language evaluation, language contact and multilingualism, language policies, and language learning and teaching). There is also, however, recognition that these practically driven problems have extraordinary range, and this range tends to dilute any sense of common purpose or common professional identification among practitioners.

Fourth, applied linguistics needs to incorporate other disciplinary knowledge beyond linguistics in its efforts to address language-based problems. Applied linguists commonly draw upon, and are often well trained in, psychology, education, anthropology, political science, sociology, measurement, computer programming, literature, and/or economics.

Fifth, following from points three and four above, applied linguistics is an interdisciplinary field since few practical language issues can be addressed through the knowledge resources of any single discipline, including linguistics.

Sixth, applied linguistics commonly includes a core set of issues and practices that are readily identified as work done by many applied linguists (language teaching, language teacher preparation, and language curriculum development).

Seventh, applied linguistics generally incorporates or includes several further identifiable sub-fields of study: bilingual studies, corpus linguistics, forensic linguistics, language contact studies, language testing, language translation and interpretation, language use in professional contexts, lexicography and dictionary malung, literacy, second language acquisition, and second language writing research. Some members of these fields do not see themselves as applied linguists, though their work clearly addresses practical language issues.

Eighth, applied linguistics often defines itself in such a way as to include additional fields of language-related studies (e.g., first language composition studies, first language literacy research, language and literature, language pathology, and natural language processing). The large majority of members of these fields do not see themselves as applied linguists, but the broad definition gives license for applied linguists to roam across these disciplines for their own goals.“

(Robert B. Kaplan – William Grabe, Applied Linguistics and the Annual Review of Applied Linguistics, Annual Review of Applied Linguistics 20 (2000) 3–17, hier 4f.)

 

AL wird hier als wissenschaftliche Disziplin beschrieben, für die die Linguistik die zentrale Wissensbasis darstellt. AL nimmt sprachbezogene real world problems zum Ausgangspunkt und ist daher nicht nur mit Fragen des Sprachenlernens und -lehrens, sondern mit ganz unterschiedlichen Fragen des Sprachgebrauchs, der Sprachbewertung, der Sprachkontakte, der Mehrsprachigkeit und der Sprachpolitik konfrontiert. Interdisziplinarität stellt ein methodisches Leitprinzip dar.

Als Kernbereiche der AL werden Sprachunterricht, die Ausbildung von Sprachlehrkräften und die Entwicklung von Curricula herausgestellt. Daneben werden aber auch viele weitere Bereiche als aufstrebend angeführt. Dazu zählen Bilingualismus, Korpuslinguistik, forensische Linguistik, Sprachkontaktstudien, Sprachtests, Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft, Analyse des Sprachgebrauchs in beruflichen Kontexten, Lexikographie, Zweitspracherwerb und Schreibwissenschaft. Hier und auch bei Alphabetisierungsforschung, Patholinguistik und NLP scheint die Positionierung innerhalb der AL nicht bzw. noch nicht völlig gefestigt zu sein.

Stella Ingeduldová, Universität Brno

“Wir möchten unter Angewandter Linguistik im Weiteren diejenigen linguistischen Gegenstandsbereiche und (Teil-)Disziplinen verstehen, die sich unter Nutzung wissenschaftlich reflektierter Verfahren mit Formen und Funktionen empirisch erhobener (multimodaler) Sprach-/Kommunikationsdaten (Korpora) im Hinblick auf ihre semiotische Relevanz in konkreten gesellschaftlichen Kontexten analytisch und interpretativ auseinandersetzen. Dabei sind die Ergebnisse der empirischen Analysen potenziell dazu geeignet, in den jeweiligen Praxisfeldern für kommunikative oder strukturelle Veränderungen genutzt zu werden.”

(Dorothee Meer – Ina Pick, Einführung in die Angewandte Linguistik. Gespräche, Texte, Medienformate analysieren, Stuttgart 2019, S. 8.)

 

D. Meer und I. Pick definieren die AL als im Kern sprachwissenschaftliche Gegenstandsbereiche, die bereits bestehende (sprach)wissenschaftliche Methoden und Datensammlungen analysieren und interpretieren. Anders als in anderen Definitionen muss AL damit nicht selbst unmittelbar (etwa mit einem übersetzenden Transformationsprozess, mit eigener Methoden- und Theoriebildung) auf sprachbezogene Probleme in der Gesellschaft reagieren, sondern kann auch Daten aus bereits linguistisch aufbereitetem Material nutzen und eigene Fragestellungen ableiten. Gesprochene und geschriebene Sprache können dabei breit mit anderen Kommunikationsaspekten (wie etwa Text-Bild-Beziehungen oder Gestik und Mimik) verbunden werden. Der Bezug auf die sprachlichen Problemstellungen in der Gesellschaft entsteht sodann in den Analysen und ihren Ergebnissen, die zur Entschärfung sprachlicher Problembereiche genutzt werden können.

Katharina Marquardt, Universität Würzburg