Forschungspraxis

Unsere Sichtweise auf den Gegenstand:

Angewandte Linguistik (= Angewandte Sprachwissenschaft) ist eine spezifische sprachwissenschaftliche Forschungspraxis.

Sie untersucht vor dem Hintergrund sprachwissenschaftlichen Wissens und sprachwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden Kommunikationsprozesse im lebensweltlichen Alltag und in beruflichen Zusammenhängen.

Sie erarbeitet Vorschläge und konkrete Lösungen für sprachliche oder sprachbezogene Problem- und Fragestellungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.

Angewandte Linguistik ist mit allen sprachwissenschaftlichen Forschungsbereichen verknüpft und kooperiert darüber hinaus interdisziplinär. 

Sie ist selbst theorie- und methodenbildend. Ihre Forschungsthemen und -ergebnisse und ihre Theorie- und Methodenbildung wirken auf linguistische Einzeldisziplinen zurück.

Magdalena Belz, Universität Würzburg

… und ein Kommentar

AL ist keine Paralleldisziplin zur Sprachwissenschaft. Sie ist auch kein Teilfach der Sprachwissenschaft. Sie ist vielmehr eine spezifische sprachwissenschaftliche Forschungsperspektive und Forschungspraxis, die mit allen sprachwissenschaftlichen Forschungsbereichen verknüpft sein kann und darüber hinaus interdisziplinär arbeiten will.

Es geht der AL um die Erforschung von sprachlichen Problemen in der Gesellschaft und gleichzeitig um die Erarbeitung von sprachbezogenen Lösungen für die Gesellschaft.

Valeria Borysová, Universität Brno

Real-world problems – und real-world solutions!

Seit fast 30 Jahren ist sich die Forschungsliteratur in einem Punkt ganz einig: Angewandte Linguistik nimmt real-world problems zum Ausgangspunkt ihrer Forschungsaktivitäten (so u. a. Davies 2004, S. 3, 11; de Bot 2015, S. 16; Göpferich 2014, S. 152; Hall 2011, S. 11; Knapp 2011, S. 117; McKinley 2017, S. XIX).

Häufig beziehen sich die Autorinnen und Autoren in der Verwendung dieses Terminus‘ auf ein Zitat des früheren Vizepräsidenten der AILA, Christopher Brumfit:

 [Applied Linguistics is] „the theoretical and empirical investigation of real-world problems in which language is a central issue”.

(Christopher Brumfit, Teacher professionalism and research, In: G. Cook – B. Seidlhofer (eds), Principle and practice in applied linguistics. Oxford 1995, 27–41, hier S. 27; ähnlich: Christopher Brumfit, How applied linguistics is the same as any other science, International Journal of Applied Linguistics 7, 1 (1997) S. 86–94, hier S. 93).

real-world problems”, „real world language problems” (Pennycook 2018, S. 114), „real-world language-based problems” (Kaplan 2010, Preface) oder „real-world language-driven problems” (Grabe 2000, S. 4): Immer ist damit gemeint, dass Angewandte Linguistik von realweltlichen Schwierigkeiten und Störungen ausgeht, die im Zusammenhang mit der Verwendung von Sprache bestehen und als solche erkannt werden. AL verfolgt dann das Ziel, Lösungen (oder wenigstens Teillösungen) für solche sprachbezogenen, praktischen Probleme aus der realen Welt zu erarbeiten und zu vermitteln.

Angewandte Linguistik erarbeitet Lösungen für praktische Probleme aus der realen Welt: Sie bleibt also nicht bei der Beschreibung der Probleme mit Sprache und Kommunikation stehen, sondern nimmt die Erarbeitung ihrer Lösungen in den Blick und unterbreitet dazu Vorschläge und Hilfestellungen. Die Forschung bleibt damit nie im Elfenbeinturm, denn die “Rückführung der Analyseergebnisse in die gesellschaftliche Praxis” (D. Meer – I. Pick, Angewandte Linguistik, S. 2) – für ein konkretes sprachliches Problem zu einem konkreten Zeitpunkt in einem konkreten Sprachraum (Davies 2007: 11) – ist stets das übergeordnete Ziel der Forschungsprozesse.

Mária Ševčíková, Universität Brno

Angewandte Linguistik: Forschungsgeschichtliche (und terminologische) Aspekte

Die Forschungspraxis der Angewandten Linguistik und das angewandt-linguistische Arbeiten in einzelnen Disziplinen hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum nach und nach etabliert – während im englischsprachigen Bereich 1948 applied linguistics im Titel einer Zeitschrift genannt wurde (Language learning. A quarterly journal of applied linguistics, Ann Arbor), waren die deutschsprachigen  Termini angewandte Linguistik und angewandte Sprachwissenschaft  (wenn auch in noch etwas anderer Verwendung) bereits früher in der Forschungsdiskussion:

Wilhelm Meyer-Lübke, einer der bedeutendsten Vertreter der älteren Romanistik, bemerkte in einer Rezension, der rumänische Romanist Bogdan Petriceicu Hasdeu unterscheide in seinem Beitrag zur vergleichenden Grammatik „reine und angewandte Linguistik“ (Zeitschrift für Romanische Philologie 8, 1 (1884) S. 143) – reine Linguistik bestehe dabei aus sprachvergleichender Grammatik, Sprachphilosophie und Sprachenklassifikation.

Der Indogermanist Hermann Hirt argumentierte unabhängig davon in seiner 1898 publizierten Leipziger Antrittsvorlesung mit einer „wie man sagen könnte, angewandten Sprachwissenschaft” (Sprachwissenschaft und Geschichte, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 1 (1898) S. 485–500, hier S. 495). Er verstand darunter vermittelnde Hilfestellungen aus sprachwissenschaftlicher Perspektive für Historiker, Geographen und Anthropologen – der Problemlösungsanspruch für Gruppen gerade auch außerhalb des engeren Faches ist hier bereits erkennbar.

Ausgangspunkte angewandt-linguistischer Forschung, wie wir sie auch heute kennen, bildeten seit den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zunächst das Lehren und Lernen von Zweit- und Fremdsprachen im Rahmen einer Fundierung und Professionalisierung von (Fremd-)Sprachenunterricht, wie Nicholas Groom und Jeanette Littlemore sehr anschaulich beschreiben (Groom – Littelmore 2011: 7f.; ähnlich Göpferich 2014: 145).

Auch im deutschsprachigen Raum wurde Angewandte Sprachwissenschaft seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts so verstanden. Angewandte Linguistinnen und Linguisten forderten und förderten damals die Einrichtung von Sprachlaboren und Sprachzentren an Schulen und Universitäten. Die vielfältigen Forschungsaktivitäten wurden seit 1955 in einer Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Sprachforum: Zeitschrift für angewandte Sprachwissenschaft zur überfachlichen Erörterung gemeinwichtiger Sprachfragen aller Lebensgebiete” (seit 1961: „Sprache im technischen Zeitalter”) dokumentiert.

Im Sinne dieses fachlichen Zuschnittes formulierte Johanna Althaus noch 1968 in einem Tagungsbericht:

„Hauptgebiete der angewandten Sprachwissenschaft sind der muttersprachliche und fremdsprachliche Unterricht einschließlich der Didaktik, der Sprachmittlung  mit Übersetzung und Dolmetschung und der Bereich der Sprachkritik, Sprachpflege und Sprachlenkung. Auf allen hier genannten Gebieten spielt schließlich ein weiterer Anwendungsbereich eine Rolle, der in den letzten Jahren immer stärker zur Geltung gekommen ist: die Terminologiearbeit in der Wissenschaft und Technik, in der nationalen und supranationalen Verwaltung und im Recht.”

(Kolloquium über offene Terminologische Fragen, Germersheim, 21.–24. Oktober 1968, Zeitschrift für Mundartforschung 35 (1968) S. 335–343, hier S. 336)

 

Die programmatische Weitung des wissenschaftlichen Blicks hin zum gesamten Bereich der praktischen Probleme von Sprechen und Sprache und deren angestrebter Lösung war damals allerdings bereits angestoßen: Günther Kandler beschrieb 1961 in einem Zeitschriftenbeitrag die Angewandte Sprachwissenschaft als ”kommenden Wissenschaftszweig[]” (Angewandte Sprachwissenschaft. Name und Wesen eines kommenden Wissenschaftszweiges, Wirkendes Wort 3 (1952) S. 257–271, hier S. 257) und belegte den „Aufbau des neuen Faches” (S. 258) mit Forschungsleistungen an der Universität Bonn, die die unmittelbare „Teilnahme der Sprachwissenschaft an der Lösung von Lebensfragen eröffnet” (S. 258) habe.

Kandler nennt Bereiche wie die Bearbeitung „mannigfacher Anfragen […], die ja einem unmittelbaren Lebensinteresse entspringen” (S. 258), zum Beispiel zur Übersetzung, zu orthographischen Fragen und zur Straßennamenvergabe. Auch Tonaufnahmen für Gesprächsforschung und die „Begutachtung sprachlicher Rechtsfragen (im Bereich des Lebensmittelwesens)” listet er auf.

Kandlers Auffassungen zur Angewandten Sprachwissenschaft werden in einer ihm gewidmeten Festschrift („Angewandte Sprachwissenschaft – Grundfragen – Bereiche – Methoden“, 1981), zusamengefasst und weitergedacht. So reformuliert darin Edeltraud Bülow Kandlers Auffassung der Angewandten Sprachwissenschaft weiterführend, indem siefesthält, AL umfasse „alle Sprachfragen, die nicht nur für die Sprachwissenschaft interessant sind. Es handelt sich also um das Eingehen der Sprachforschung auf die sprachlichen Probleme und Bedürfnisse in allen anderen Gebieten der Wissenschaft und des Lebens“ (S. 19). Bülow ergänzt, dass die Angewandte Sprachwissenschaft als „eine paradigmentheoretisch, d. h. wissenschaftstheoretisch legitimierte Disziplin [zu verstehen ist], deren Legitimität […] sich aus der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung als notwendig ergibt“ (S. 36). Sie hebt außerdem den interdisziplinären Charakter der Angewandten Linguistik hervor, betont aber gleichzeitig, dass Angewandte Sprachwissenschaft dennoch keine Intersektionswissenschaft sei (vgl. S. 36).

Helmut Gipper beklagt gleichzeitig in dieser Festschrift, Kandlers Ansatz der Angewandten Sprachwissenschaft, der „überall direkt in das praktische Leben hineinführt“, (S. 43) werde nicht (mehr) weiter in der Wissenschaft und Praxis verfolgt (vgl. S. 43). Er stellt nämlich fest, dass „die heutige angewandte Sprachwissenschaft nicht das ist, was [Kandler] vorschwebte“ (S. 43). „Im internationalen Rahmen [beispielsweise] ging und geht es vor allem um sprachdidaktische Probleme“ (S. 42). Gipper plädiert damit auch für die grundsätzliche Ausweitung des thematischen Spektrums der AL, die sich offen gegenüber „neuere[n] nachfolgende[n] Strömungen“ zeigen solle.

Die erhoffte und geforderte Ausweitung der AL- Aktivitäten ist bekanntlich erfolgt. Sie  steht maßgeblich im Zusammenhang mit der Gründung der AILA (1964) und mit der Gründung der GAL (1968) und ihrer Förderung und Bündelung der Interessengebiete.

Heute beschäftigt sich Angewandte Linguistik mit sehr breitem Horizont mit der Lösung von sprachbezogenen Problemen in der realen Welt. Es versteht sich von selbst, dass dabei die Analyse des Lehrens und Lernens von Sprachen nach wie vor einen wichtigen Bereich darstellt.

Bisweilen wird das heutige breite Spektrum Angewandter Linguistik aber auch immer noch als zwei Richtungen wissenschaftlicher Forschung beschrieben, so etwa im Titel des von Jack C. Richards und Richard W. Schmidt herausgegebenen Longman Dictionary of Language Teaching and Applied Linguistics (vgl. Groom 2011: 10).

Simone Voran, Universität Würzburg